Ob Street-Perfomance oder Regiestück – Sarah Milena Rendel sieht Theater als dringend benötigten Raum für kreative Experimente und Sichtbarkeit für marginalisierte Themen wie Wohnungslosigkeit, Armut oder sexualisierte Gewalt.
Ein angenehmes Kribbeln mischt sich in die Theaterluft, als sich der schwere Samtvorhang hinter der Kassafrau öffnet, die Bier und Snacks ans Publikum verkauft. Sarah Milena Rendel ist eingesprungen, denn jemand muss den Einlass machen. Für zusätzliches Personal reicht die Förderung nicht, große Einnahmen werfen die Produktionen in der Freien Theaterszene nicht ab. „Mir ist es wichtig, dass meine Schauspieler:innen ein angemessenes Gehalt bekommen“, betont sie. Mehr sei oft nicht drin. Theatermacherin, Regisseurin und Dokumentarfilmerin Sarah Milena Rendel hilft dann selbst aus – an der Kassa, bei der Requisite oder im Bühnenbild.
Die 32-Jährige hat bis 2017 Erziehungswissenschaften in Innsbruck studiert. Durch ihr Hochschulstudium begleitete sie die große Frage „Und was dann?“. Das Gefühl, dass zwischen Theorie und praktischer Umsetzung in Bildungseinrichtungen Welten klaffen, verstärkte sich, ließ sie an ihrer Berufswahl zweifeln. Doch sie hat etwas Wichtiges mitgenommen aus ihrer Studienzeit: „Die Erziehungswissenschaften gaben mir die Möglichkeit, mich mit Diskursen wie Gender, Postcolonial und Disability Studies vertraut zu machen und kritisch denken zu lernen.“
Dann suchte ein Bekannter aus der queeren Szene Innsbrucks, Wolfgang Jäger, eine Regieassistentin. „Das hörte sich so spannend an“, erinnert sich Rendel. Sie gab sich einen Ruck und fragte, ob sie auch ohne einen Schimmer Theaterwissen mitmachen könne. Sie bekam den Job und verliebte sich: Das Theater hat sie seitdem nicht mehr losgelassen.
„Mir ist es wichtig, dass meine Schauspieler:innen ein angemessenes Gehalt bekommen.“
Sarah Milena Rendel
Think global, act local.
Seit gut zehn Jahren ist Rendel vor allem als Autorin, Produktionsleiterin und Regisseurin tätig. Ihre eigenen Stücke, theaterpädagogischen Projekte und Performances eint ihr gesellschaftskritischer Input. Mit ihren Texten war sie u. a. beim Tiroler Dramatiker*innenfestival 2021 und 2023 vertreten. Ihr erster Dokumentarfilm „Wohnen“ feierte beim IFFI, dem Internationalen Filmfestival Innsbruck, Premiere.
Mit „Unsichtbar“ hat sie diesen Spätsommer eine Straßenperformance über Wohnungsnot in Innsbruck an der Franz-Gschnitzer-Promenade beim Denkmal für den Obdachlosen Wolfgang Tschernutter, der vor 30 Jahren von Jugendlichen zu Tode geprügelt wurde, inszeniert. Im Rahmen des Projekts „Unterm Dach“ erzählte Autorin Bianca Schatz ihre Geschichte als ehemals Wohnungslose in strömendem Regen. Das Publikum konnte sich, eingehüllt in zur Verfügung gestellte Ponchos, ein Stück weit hineinfühlen, wie es ist, bei jedem Wetter draußen sein zu müssen.
Rendels gleichnamiger Dokumentarfilm dazu erscheint im November, Ende 2024/Anfang 2025 folgt „Umsonst“, ein Dokumentarfilm über Schenkökonomie in Tirol, bei dem Rendel ebenfalls mitwirkte.
Obwohl die Kreative ohne Stipendien und Förderungen nicht von ihrer Arbeit Leben könnte, kommt ihr Innsbrucks Kunst- und Kulturszene mit ihren zahlreichen kleinen Bühnen, die sich in Industriebrachen und Kellergewölben mitten in der Stadt verstecken, entgegen: Die freie Theaterszene liefere für die Größe der Stadt eine unbändige Vielfalt an Produktionen, Gruppen, Bühnen, Orten und experimentellen Formaten. „Alle Akteur:innen – und das ohne jegliche Ausnahmen – versuchen, das Beste mit beziehungsweise trotz einer wirklich komplexen und prekären Finanzierungssituation zu machen, um Kunst umzusetzen, die ästhetisch und/oder gesellschaftlich relevant ist“, sagt Rendel, die als künstlerische Leiterin des Kunst- und Kulturvereins Soliarts Gastspiele im BRUX /Freies Theater, im Westbahntheater, in der Bäckerei, im Bogentheater, im theater praesent, dem Theater Tiefrot in Köln sowie in Wien im Ateliertheater und im Lacy Life gibt.
„Gewalt gegen Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte.“
Sarah Milena Rendel
Solidarische Vielfalt.
Trotz der schwierigen finanziellen Situation, in der sich die Kulturszene seit Jahren befinde und die in unnötige Konkurrenzen um Fördermittel dränge, gebe es unter den kleinen Theatern viele Bemühungen, zusammenzuarbeiten. „Gerade die solidarischen Verbindungen finde ich für die Entfaltung und den Erhalt der freien Szene unendlich wichtig. Die Machtverhältnisse sind viel flacher, was gemeinsames Arbeiten im Kollektiv ermöglicht. Große Institutionen haben meist schnell ein toxisches Klima – einfach dadurch, dass einzelne Personen Machtpositionen einnehmen. Macht lässt sich leider leicht missbrauchen“, betont sie die Einzigartigkeit des freien Netzwerks aus Schauspieler:innen, Theaterinitiativen und Vereinen und seine Relevanz für marginalisierte Stimmen. „Dieses Netzwerk verleiht Innsbruck Urbanität – nicht zuletzt im Austausch mit der freien internationalen Theaterszene“, findet sie und lädt ein, die kleinen, aber spannenden Aufführungen der Innsbrucker Off-Theater-Bühnen kennenzulernen.
Die nächsten Wochen seien eine gute Gelegenheit dazu, denn anlässlich der 16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen, die am 25. November (Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen) beginnen und am 10. Dezember mit dem Internationalen Tag der Menschenrechte enden, sei einiges geplant: Der Zeitraum ist gefüllt mit Aktionen, Kunst- und Kulturevents, die dazu auffordern, geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen in all ihren Ausprägungen zu stoppen.
Rendel selbst ist mit dem Straßentheater „Monologe gegen Gewalt“ von P. R. Ranieri vertreten, das sich mit der erschütternden Realität von Gewalt gegen Frauen im Lauf der Geschichte auseinandersetzt. „Anhand fünfminütiger Monologe, die in unterschiedlichen historischen Momenten spielen – 1799, 1945 und 2023 –, erforscht das Stück die Natur des Ungleichgewichts patriarchaler Machtverhältnisse“, erklärt Rendel. „Gewalt gegen Frauen zieht sich wie ein roter Faden durch die Jahrhunderte. Das Publikum erlebt die erschreckenden Parallelen zwischen den historischen und den heutigen Gräueltaten und jenen Elementen, die zu Gewalt gegen Frauen führen.“ Das Stück beziehe sich auf eine internationale Kampagne, die das Bewusstsein schärfen und zum gewaltpräventiven Handeln anregen möchte.
Mehr Theater-Festivals, bitte!
Neben ihren künstlerischen Projekten organisiert die Aktivistin mit Vorliebe Theater-Festivals.
Die hält sie für dringend notwendig, um die Vielfalt der Tiroler Theaterlandschaft einem größeren Publikum sichtbar zu machen, aber auch um Gemeinschaftsprojekte zu planen. Das Freie Theaterfestival Innsbruck/Tirol fand von 2008 bis 2016 statt, die Domain steht zum Verkauf – trotz diverser Petitionen und Bittschriften an die Landesregierung, um einen kulturellen Austausch jenseits von Leistungssport und Wirtschaft zu er-möglichen.
Derzeit sind es vorwiegend Privatinitiativen, die kulturelles Ödland neu befruchten: Diesen Sommer fand bereits zum fünften Mal das „Theater unter Sternen“ im Zeughaus statt, bei dem Profis mit Amateur:innen zu einem Freiluft-Theaterfestival zusammenfinden. Rendel war von Anfang an Mitorganisatorin und auch beim „filmfestival im waldhüttl – das Festival für soziale Themen“ involviert.
Wärmstens ans Herz legt sie allen das Festival inklusive Theater von spectACT – Verein für politisches und soziales Theater, das von 28. November bis 1. Dezember stattfindet. Das Festival sei ziemlich einzigartig: „spectACT ermöglicht Begegnungen im Bereich Kunst und Kultur von Menschen mit und ohne Behinderungen“, so die Theatermacherin. Neben Genres und Staatsgrenzen überschreite das Festival damit auch die Grenzen in den Köpfen des Publikums – so, wie es nur Theater kann.
Hier kann man Sarah Milena Rendel demnächst in Innsbruck erleben:
21. November, 19.30 Uhr,
Ágnes-Heller-Haus, Seminarraum 8
Queeres Hörsaalkino
25. November und 8. Dezember,
20 Uhr, Leokino
Monologe gegen
Genderbasierte Gewalt von P. R. Ranieri mit Viktoria Castellano, Flora Resl, Ines Stockner und Michael Krause Krause
27. November, 18 Uhr,
Museum im Zeughaus
History Talk und Filmpräsentation des Dokumentarfilms „Wolfgang“: Was kann ein Denkmal bewirken?
AutorIn: Verena Wagner
Foto: FRANZ OSS
Foto: FRANZ OSS