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Alte Musik,

neue Relevanz

Als Eva-Maria Sens bei den Festwochen der Alten Musik anfing, ahnte sie nicht, dass sie zehn Jahre später immer noch dort sein würde – inzwischen sogar als künstlerische Direktorin. Im Gespräch erzählt sie, warum sich die Beschäftigung mit Alter Musik auch heute noch lohnt.

Zur Person

Die in Mittelfranken aufgewachsene Eva-Maria Sens feiert gerade ihr zehnjähriges Jubiläum bei den Innsbrucker Festwochen der Alten Musik, die sie seit 2023 in einer Doppelspitze mit Ottavio Dantone leitet. Vor ihrem Wechsel zu den Festwochen war die studierte Germanistin und Historikerin beim Kammerorchester Basel tätig.

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Wie sind Sie zur Alten Musik – und nach Innsbruck – gekommen? Eva-Maria Sens: Eigentlich war es genau andersrum: Ich bin nach Innsbruck gekommen und damit zur Alten Musik. Ich habe vorher bei einem Orchester gearbeitet, das sich auch mit historischer Aufführungspraxis beschäftigt, aber in einem weiteren Sinn. Weil ich das Orchester auf Tourneen begleitet habe, war ich sehr viel unterwegs, was ich irgendwann nicht mehr wollte. Dann haben sich die Festwochen ergeben.

Was macht Alte Musik auch 2025 noch relevant?

Man sollte nie vergessen, worauf wir aufbauen, da verhält es sich mit der Alten Musik nicht anders als mit der Geschichte und mit der Gesellschaft. Jazz wäre ohne die Barockmusik nicht denkbar, Akkordkombinationen der frühen Gregorianik hören sich an, als wären sie aus der Moderne – es gibt Verbindungen vom Gestern ins Heute. Wir können Erkenntnisse aus der Entwicklung der Musik gewinnen und aus Fehlern lernen. Und es ist einfach faszinierend schöne Musik, die immer berühren wird.

Was empfehlen Sie als Einstieg, wenn man noch keinen Bezug zur Alten Musik hat?

Der beste Einstieg ist, glaube ich, sich Vivaldi oder Händel anzuhören. Jede:r kennt Vivaldis „Vier Jahreszeiten“, selbst wenn man es nicht zuordnen kann. Es ist einfach, zuzuhören und sich mittragen zu lassen, diese emotionale Unmittelbarkeit zu erleben. Dann kann man es mit Bach versuchen, wo das Zuhören schon komplexer ist, und sich irgendwann unbedingt in die Welt der Barockopern wagen. Oder man kommt im Sommer zu unseren Lunchkonzerten, wo man sich einfach mittags in den Hofgarten setzen und der Musik, begleitet vom Vogelgezwitscher, lauschen und sich anstecken lassen kann.

„Die Menschen wissen, egal, was man hier hört, es ist von fantastischer Qualität und in einem einmaligen Ambiente.“

Eva-Maria Sens

In der Alten Musik selbst gibt es so gut wie keine Frauen. Wie sieht es heute mit Gleichberechtigung in der Branche aus?

Es gibt ein paar wenige Komponistinnen aus der Zeit, die erst jetzt so langsam entdeckt werden, die aber natürlich nicht in der Fülle produzieren konnten, wie es ihre männlichen Kollegen gemacht haben. Aber wenn man sich die Ensembles heute anschaut, ist es gerade in der jüngeren Generation absolut ausgeglichen. In der Generation der jetzigen musikalischen Leitungen bei größeren Ensembles ist der Männeranteil noch wesentlich höher, deswegen finde ich es total wichtig, dass wir als Veranstalter:innen nur nach Qualifikation und Fähigkeiten besetzen und fördern, wenn jemand Talent hat. Dann werden in 20, 30 Jahren auch mehr Frauen an den Pulten stehen und nicht mehr die Ausnahme sein.

Warum passen Innsbruck und die Alte Musik so gut zusammen?

Innsbruck hat als Habsburger Residenzstadt die Musikgeschichte weitaus mehr mitgestaltet, als man glauben möchte. Hier stand das erste frei stehende Opernhaus nördlich der Alpen, und es war einfach ein Ort, an dem sich alles getroffen hat. Diesen geschichtlichen Hintergrund finde ich sehr essenziell. Dann ist es diese unfassbare Natur, die Innsbruck umgibt und allem, was hier stattfindet, eine Einmaligkeit verleiht. Und die historischen Spielstätten, die wir haben – im Spanischen Saal Konzerte machen zu können, ist einfach fantastisch. Das alles und die Reputation, die sich die Festwochen in 50 Jahren aufgebaut haben, macht sie aus – die Menschen wissen, egal, was man hier hört, es ist von fantastischer Qualität und in einem einmaligen Ambiente.

2025 steht unter dem Motto „Wer hält die Fäden in der Hand?“. War bei der Entscheidung schon klar, wie relevant das Thema sein wird?

Ich habe mir tatsächlich zwischendurch gedacht, ob ich hellseherische Fähigkeiten besitze. Beschlossen wurde das Thema schon vor zwei Jahren. Es hat sich aus der Arbeit mit einer Puppenspielkompanie ergeben: Bei Puppen und Marionetten denkt man sofort an Schicksal und die Frage, wer lenkt. Ich finde es ganz wichtig, sich darüber Gedanken zu machen, wo Macht liegt, welchen Einfluss sie auf die Kultur und die Gesellschaft hat und wer wirklich die Fäden zieht. Mit jeder Entwicklung, die unsere Gesellschaft in diesen zwei Jahren genommen hat, könnten wir aber auch ein Forum für politische Diskussionen aufmachen unter diesem Motto.

Sie bewegen sich mit Kooperationen wie mit dem Street Motion Studio oder St. Bartlmä bewusst auch abseits klassischer Spielstätten und -formen. Warum?

Wenn man etwas bewegen möchte, muss man über den eigenen Tellerrand hinausschauen, das gilt auch in der Kultur. Und ich glaube, dass speziell Orte ganz relevant dafür sind, von wem man wahrgenommen wird. Wenn man die Schotten dicht macht und alles in Schubladen packt, bleiben wir auch als Gesellschaft in uns selbst verhaftet und können uns nicht weiterbewegen.

„Wenn man die Schotten dicht macht und alles in Schubladen packt, bleiben wir auch als Gesellschaft in uns selbst verhaftet und können uns nicht weiterbewegen.“

Eva-Maria Sens

Worauf freuen Sie sich 2025 am meisten?

Wenn ich mich entscheiden muss: das Format Ottavio plus, wo unser musikalischer Leiter zusammen mit verschiedenen Partner:innen kammermusikalisch zu hören sein wird. Und auf das Konzert von Countertenor Andreas Scholl. Ich war 17, als ich ihn zum ersten Mal gehört habe in einem Konzert. Das war gefühlt in einem anderen Leben, jetzt ist er bei uns zu Gast.

Mit welchen fünf Musiker:innen oder Komponist:innen, tot oder lebendig, würden Sie gern Ihr zehnjährigen Jubiläum feiern?

Auf jeden Fall Ottavio Dantone, weil er ein Musiker und Mensch ist, der mir in unserer Zusammenarbeit schon so viel mitgegeben hat dadurch, wie er über Musik redet und wie er als Mensch ist, in seiner unfassbaren Begeisterung für Musik. Herbert Grönemeyer, weil er ein Mensch mit Haltung ist und wir solche Menschen gerade jetzt dringend brauchen. Ich glaube, ich war bei keinem anderen Künstler auf so vielen Konzerten wie bei ihm. Und John Lennon und Paul McCartney, weil die beiden in Kombination wahnsinnig faszinierende Musiker und Komponisten sind.

Was möchten Sie mit den Festwochen noch erreichen?

Ich will erreichen, dass man das Gefühl hat, etwas verpasst zu haben, wenn man ein Jahr nicht bei den Festwochen war – egal ob als Künstler:in oder als Gast.

Danke für das Gespräch.

Was ist Alte Musik?

Der Begriff „Alte Musik“ umfasst eine Zeitspanne von rund 500 Jahren und beinhaltet neben der am häufigsten damit assoziierten Barockmusik auch das Mittelalter, die Renaissance und die Anfänge der Klassik.

Interview: Lisa Schwarzenauer
Fotos: Franz Oss