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Die Göttin der

Bögen

Sigrid Moser bedeutet die Bogenmeile alles,
sie ist Heimat und Rettungsanker zugleich.
Um die Viaduktbögen in ein positiveres Licht zu rücken und ihre Vielfalt zu zeigen, hat sie einen Schreibwettbewerb initiiert. Die besten Texte werden zum Bogenfest in Mai abgedruckt.

Eine kleine Menschentraube hat sich vor der p.m.k gebildet. In der Mitte steht eine Frau auf dem Gehweg und erzählt Flachwitze – Lachtränen in den Augen. Die Pointe des letzten Witzes ist so grottig, dass manche ihrer Zuhörer:innen die Augen verdrehen, andere kichern, lachen. „Deine Witze sind so schlecht, dass sie schon wieder lustig sind“, sagt einer mit Kapuze. Die Meinungen über Humor mögen auseinandergehen, aber Sigrid Moser hat wieder einmal das Eis gebrochen. Die Stimmung ist gelöst, übermütig, alle sind vergnügt und genießen die ansonsten frostige Nacht in der Bogenmeile.

Sigrid Moser liebt diese Community, diesen bunten Haufen aus Jungen, Junggebliebenen und Alterslosen. Alles begann nur ein paar Schritte weiter. „Das Babalon ist meine Lieblingskneipe“, schwärmt sie. Inmitten voll besetzter Tische thront eine Madonnenstatue, breitet segensreiche Hände über das Nachtvolk aus. Hier fühlt sich Sigrid behütet wie in einem sicheren Hafen. Ziemlich viele Menschen kennen sie als Innsbrucker Szene-Urgestein, haben sich schon mindestens einmal mit der Frau mit den lachenden Augen unterhalten. Wie sie von sich selbst sagt, ist das ihre absolute Lieblingsbeschäftigung: reden, reden, reden.

Leben mit Psychosen.

Deshalb hat sie auch seit vier Jahren eine Radiosendung auf Freirad. „Radiomachen wollte ich eigentlich nicht unbedingt, ich wollte nur eine Sendung zum Thema psychische Gesundheit gestalten“, resümiert die Politologin. Jeden zweiten Freitag im Monat gestaltet sie die Sendereihe „Psychiatrie in Bewegung“ und entlarvt mit ihren Studiogästen Verhaltensweisen, die sich gegen Menschen richten, denen es psychisch schlecht geht. Es geht ihr vorrangig darum, die Gesellschaft zu sensibilisieren, sie offener und toleranter zu machen für Menschen mit psychiatrischem Hilfsbedarf, deren Angehörigen und professionellen Begleiter:innen.

Dieses Thema hat Sigrid Moser nicht ohne Grund ausgesucht: Ihre erste Psychose liegt 18 Jahre zurück. Sie schlich sich in ihr Leben. Nichts funktionierte mehr wie zuvor. Alles machte ihr Angst, sie litt unter Verfolgungswahn. Der erste Schritt, um wieder klarzukommen, war, zu akzeptieren, dass sie an einer Krankheit litt. Dann folgte die Erkenntnis, dass diese jederzeit wieder zurückkehren konnte und dass sie sich Hilfe holen kann. „Ich hatte Phasen, in denen es mir richtig schlecht ging, war mehrmals in stationärer, psychiatrischer Behandlung“, erinnert sie sich.

Trotz ihrer psychischen Erkrankungen hat sie es geschafft, ihr Studium zu beenden und ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Aufgefangen haben sie nicht nur einmal die Menschen in den Bögen. Dort fühlt sie sich immer willkommen, wird so angenommen, wie sie ist, darf sie selbst sein. Freundschaft, Dankbarkeit und Solidarität sind Gefühle, die sie dort für sich entdeckt hat. „Die Person, die ich heute bin, möchte der Person, die ich vor fünf Jahren war, sagen: Danke, dass du nicht aufgegeben hast, du bist wunderbar!“

„Es geht im Leben nicht darum, die richtige Lampe zu finden, sondern das Licht in dir.“

Sigrid Moser

Durch Krisen begleiten.

Als ausgebildete EX-IN Genesungsbegleiterin und Recovery-Expertin steht sie seit 2019 selbst Menschen mit psychischen Erkrankungen und in psychischen Krisen zur Seite. EX-IN kommt von „experienced involvement“. Das bedeutet so viel wie das „Miteinbeziehen von Erfahrenem“. Das Konzept wurde zwischen 2005 und 2007 in einem länderübergreifenden EU-Projekt in verschiedenen Tiroler Einrichtungen entwickelt und basiert auf folgender Erkenntnis: Trotz unterschiedlicher Diagnosen und Krisengeschichten ist eine gewisse Ähnlichkeit von Ängsten, psychischen Schmerzen, Hoffnungslosigkeit, schwierigen Lebenssituationen sowie Frühwarnzeichen vorhanden. „Obwohl jede Krise einzigartig ist, haben wir EX-INs durch unsere eigenen Erfahrungen in psychischen Krisen und durch unsere Erkrankungen, die uns dauerhaft begleiten, einen besonderen Bezug zu unseren Klient:innen“, erklärt Sigrid. Der Wunsch, aus der Krise herauszufinden, habe etwas Verbindendes: „Wir verstehen die Probleme der Betroffenen nicht besser, sondern gehen anders an sie heran.“ Als Genesungsbegleiterin unterstützt sie Betroffene dabei, in für sie jeweils erträglichem Maße ihre Gewohnheiten zu verändern und Schritt für Schritt in ein lebenswertes und selbstbestimmtes Dasein zurückzufinden.

Die Bögen lesen

Die „Bogengazette“ mit 20 Texten rund um die Innsbrucker Bogenmeile und ihre Bedeutung für die Menschen, die dort unterwegs sind, ist aus einem von den „stadt_potenzialen“ geförderten Schreibwettbewerb hervorgegangen und erscheint zum Bogenfest am 24. Mai.

Eine Ode an die Bögen.

Kein anderer Ort als die Bogenmeile selbst inspirierte Sigrid Moser zu ihrem neuesten Projekt: Mit der „Bogengazette“ will sie die Bögen als Schnittstellen kultureller Vielfalt, von Zusammenhalt und Hoffnung für Marginalisierte auch für andere Tiroler:innen sichtbar machen. Ihre Idee zum „Schreibwettbewerb Bogengazette“ hat sie bei den „stadt_potenzialen 2024“ eingereicht, wo sie als eines von fünf Siegerprojekten ausgewählt wurde und 15.450 Euro für die professionelle Umsetzung der „Bogengazette“ mit Geschichten rund um die Bogenmeile bekam. „Über 130.000 Menschen leben in Innsbruck, jede:r einzelne davon hat einen eigenen Blick auf diese besondere Straße und eine individuelle Geschichte, die er oder sie mit den Bögen verbindet“, betont Moser.

Der Schreibwettbewerb bot auf niederschwellige Art und Weise die Chance, dass Menschen ihre ganz persönliche Geschichte der „Bögen“ erzählten. Mehr als 50 Einreichungen sind eingegangen, darunter Prosa, Lyrik, Texte in Alltagssprache und sogar eine Fotolovestory und illustrierte Texte.

Die Jury des Wettbewerbs bestand aus Gina Disobey, Künstlerin, Sängerin und Aktivistin, Lisa Koller, Komparatistin und ehemalige Dramaturgin am Tiroler Landestheater, sowie der Juristin und Babalon-Wirtin Martina Erhart und dem Kunstarbeiter und Philosophen Marco Russo. „Wir wollten mit unserer Textauswahl ein breites Spektrum und somit einen Querschnitt der Einreichungen abbilden. Dabei sollten die Bögen nicht nur als Ausgehmeile verstanden, sondern auch ihr Wert als urbaner Raum verdeutlicht werden. Die Bogenmeile ist eine Begegnungszone, die kulturell, aber auch beruflich wirkt. Die Texte lieferten einerseits ein generelleres Abbild und andererseits individuelle Erfahrungen“, so das Statement der Jury zu den „künstlerisch wertvollen, teilweise surrealen, teilweise aber auch zu realen Texten“. Da sich viele der beschriebenen Erfahrungen deckten, wählte man die ausdrucksfähigsten Texte aus. Ein Augenmerk lag auf der lokalen Szene, auf Perspektiven von außerhalb und dem Blickwinkel marginalisierter Gruppen. „Wenn nicht alles gut ist, ist es noch nicht das Ende, weil am Ende ist alles gut“, konstatiert Moser und lädt alle ein, die Bögen am Bogenfest selbst zu erleben.

Tipp: Sigrid Moser auf Radio Freirad (105,9 MHz): Sendereihe „Psychiatrie in Bewegung“, jeden zweiten Freitag im Monat von 17 bis 18 Uhr

Text: Verena Wagner
Foto: Franz Oss