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Krasse Moves mit Müll

Krasse Moves mit Müll

Die MullMulla verzaubern mit ihrer aktivistischen Performance, einem Orchester mit Müllinstrumenten und selbst gebastelten Upcycling-Kostümen. Ihr Tanz zelebriert Lebensfreude, ist Ausdruck ritueller Streetart, aber auch ganz konkrete, haptische Umweltbildung.

Ein Müllhaufen in einer Innsbrucker Parkanlage? Eine Passantin stutzt, mehrere bleiben stehen, als schräge Sounds ertönen. Der Müllberg bewegt sich, erwacht zum Leben. Skurrile Figuren materialisieren sich, tanzen mit minimalistischen Bewegungen zu den Klängen von aus Müll gebauten Instrumenten. Ganz so, als ob die Masken sie steuerten.

Zuerst war MullMulla nur ein Wortwitz unter Freund:innen, angelehnt an den Fasnachtsbrauch des Mullens. Andererseits steckte von Anfang an mehr dahinter. „Das Alte braucht immer ein bisschen Auflockerung, damit daraus auch für die Neuzeit brauchbares Brauchtum entsteht“, bemerkt Performancekünstler Stephan Pirker, genannt Schuale. Folgerichtig klimpern an seiner Elektromüll-Verkleidung seit neuestem Aludosen und manchmal bereichert er die Inszenierungen der MullMulla sogar mit seinem Bagger. Ziel der offenen Performancegruppe ist es, mit Masken, Tanz und Musik das Bewusstsein für einen respektvollen Umgang mit globalen Ressourcen einzufordern.

15 Köpfe zählt das Basisteam. Dieses beinhaltet so fantasievolle Figuren wie den Baustellenmulla, der mit rot-weiß gestreiften Absperrbändern beeindruckt, die Friedhofmullarin mit Grablichtern und den Medizinmulla mit Wegwerf-Medizinprodukten. Sogar ein Biomulla mit Kompost und Knochen war anfangs dabei.

Mathias Prachensky aka Damned OilReifenMulla sagt: „Auf humorvolle Art Menschen zum Müllvermeiden zu bewegen, ist genau so, wie es mir gefällt. Mit Humor aufrütteln, vermitteln, sensibilisieren – und wenn die Kostüme noch kunstvoll ausgearbeitet werden, zeigen sie darüber hinaus auf, wie wertvoll ‚Müll‘ ist.“ Schuale bringt es auf den Punkt: „Seltsame Figuren kriechen aus dem Müll einer Zivilisation, die versucht, uns zu vereinzelten Konsument:innen zu reduzieren.“ Dagegen ballt sich die kreative Energie der Gruppe zusammen.

„Einfach eine gute Energie! Man spürt die Lebensfreude und sieht die Kreativität der MullMulla an den bunten Kostümen.“

Teresa Schnitzer aka Tapemullarin

Wie alles begann.
„Es ist eine weltweit verbreitete kulturelle Praxis, Bedrohungen und Ängste zu bannen, indem man sie als Maskengestalten inkorporiert und performativ darstellt“, erklärt Ethnologe und Plastikmulla Daniel Jarosch. Es ist nicht die erste öffentliche Kampagne, mit der er und Schuale in Innsbruck Aufmerksamkeit für unbequeme Themen schaffen. „Herz aus Stein“ hieß ihre Aktion zum Bettelverbot in der Innsbrucker Innenstadt 2018. Dazu haben sie mit Stempeln versehene Steine als „Hitt-Coins“ im Christkindlmarkt verteilt. Die „verbotenen“ Bettler:innen konnten diese bei der „Herberge“, einer Einrichtung der Wohnungslosenhilfe in der Hunoldstraße, gegen zehn Euro pro Stein eintauschen. „Das war unsere Subvention“, erklärt Jarosch, von Beruf Fotograf. Hinter der Idee steckt die Sage der Frau Hitt, die zu dem gleichnamigen Berg versteinert ist, weil sie einer Bettlerin einen Stein zugeworfen hat. 

Das war noch vor der Gründung der MullMulla. Die Idee zur Erweiterung des Volksbrauchs spukte den beiden seit Langem im Kopf herum, wie die Geister der wilden Brauchtumsgestalten, die ihnen schon als Kinder imponierten. „Immer wieder sind wir auf das Mullen gekommen, wo wir doch beide den Wunsch hatten, selbst der Zottler zu sein. Andererseits hatte ich eine totale Abneigung, den Weg in die Dorfwelt mit Schuhplatteln, Brauchtumsgruppen und so weiter zu beschreiten“, sagt Schuale, der als Dreijähriger mit seinen Eltern nach Mils gezogen ist.

Als er 2019 zur Mitwirkung am Straßenkunstfestival anlässlich der 30-Jahr-Feier vom Kulturlabor Stromboli in Hall eingeladen wurde, war das die Chance, ihre Trash-Version der traditionellen Mulla zu starten. Mit einer Gruppe befreundeter Künstler:innen bauten sie Masken und Kostüme aus Müll und entwickelten die erste Tanzperformance. Insgesamt gab es seitdem 14 Auftritte, zuletzt im November bei der alternativen Fasnacht Forward, einer Initiative der Burschenschaft Furia zu Innsbruck.

Tradition weiterdenken.
„Die formale Choreografie und die simplen, reduzierten Bewegungen der Mulla fand ich immer extrem ästhetisch. Diese ursprüngliche, performative Kraft des traditionellen Brauchtums wollten wir in unseren Performances reaktivieren“, sagt Jarosch, der sich eingehend mit dem Brauchtum aus den um Innsbruck liegenden MARTHA-Dörfern (Mühlau, Arzl, Rum, Thaur und Absam) befasst hat.

Beim Kostümbastel-Workshop im Zuge der Premierentage sei ein echter Mulla vorbeigekommen, der ein paar wertvolle Tipps für sie hatte. Ursprünglich war die Idee, die Kostüme irgendwann so zu bestücken, dass die ursprünglichen Charaktere rauskommen. Heute findet die Gruppe es aber ganz in Ordnung, der traditionellen Zeremonie, in der alles eine Symbolik hat, gar nicht so nahe zu sein.

„Jetzt sehe ich dieses bewusst Provisorische und Unperfekte in unseren Auftritten auch als einen wichtigen Teil der Botschaft unserer
Performances. Die Erkenntnis ‚Es muss nicht alles perfekt sein‘ ist befreiend.“ 

Martin aka CD-Mulla

„Wir haben die Absicht des magischen (oder symbolischen) Eingriffs in die Naturgewalten mittels Maskentanz verlagert: vom Ziel, die Rückkehr des Frühlings zu sichern, hin zum Ziel, eine zerstörerische Lebensweise zu überwinden und ein nachhaltiges Leben auf der Grundlage von Kreislaufprozessen zu fördern“, erklärt Jarosch.

Deshalb treten die MullMulla das ganze Jahr über auf. Ihre Choreografie ist bis zu einem gewissen Punkt fluid: „Wenn es nur noch hüpfendes Chaos ist, wird es beliebig. Deswegen versuchen wir, einfache Sachen zu machen, etwa, dass alle für eine gemeinsame Geste zusammenkommen“, erklärt Jarosch. Jeder Auftritt sei ein bisschen anders.

„Ich sehe dieses bewusst Provisorische und Unperfekte aber auch als einen wichtigen Teil der Botschaft unserer Performances. Die Erkenntnis, dass nicht alles perfekt sein muss, ist befreiend. Das Projekt ist nicht nur trotzdem, sondern gerade deswegen ein Riesenspaß – nicht nur für das Publikum, sondern auch für uns selber, angefangen beim Bauen und Basteln der Kostüme bis zum wilden Tanzen in der Öffentlichkeit“, findet Martin, der seine CD-Sammlung aufgelöst und daraus sein Kostüm gebaut hat.

Gaudi trifft Umweltbildung.
„Es geht uns nicht nur um Aktivismus, sondern auch darum, fröhlich zu sein. Bei uns bleibt fix die Lebensfreude erhalten. Das ist unser Motto“, sagt Jarosch. Dazu gehöre, gemeinsam kreativ zu sein. Dafür steht ihr „Verein zur Förderung der Lebensfreude und zur Erhaltung eines lebenswerten Planeten für alle“. Bei allem Schmäh steht das Müllproblem im Fokus. „Dass es so viel Müll gibt, ist das Symptom eines problematischen Konsums und einer Wirtschaftsweise, die auf Schnellproduzieren und Wegwerfen gegründet ist – eine zerstörerische Lebensweise“, fügt Teresa Schnitzer hinzu.

So entstand die Idee, ausschließlich Müll für die Kostüme zu verwenden und diese so oft wie möglich zu flicken und zu reparieren, bevor sie ins Upcycling gehen. Der gewünschte Effekt: neben dem Ausdruck von Lebensfreude dazu anregen, mehr auf die Welt aufzupassen und den Konsumwahnsinn zu stoppen. „Wenn ich mir Kostüme aus Müllresten baue und mich mit dem ganzen Thema auseinandersetze, komme ich drauf, dass ich den gleichen Konsumschaden habe wie alle anderen. Ich muss haben, haben, haben“, bemerkt Schuale.

„Du kannst dein Kostüm verwenden, um etwas abzuarbeiten, deine Geschichte oder etwas für die Welt. Dementsprechend kannst du ein Kostüm auch wählen“, weist Jarosch auf die Spirits hinter den einzelnen Kostümen hin.

In den letzten Jahren werden die MullMulla regelmäßig für Umweltbildung-Workshops gebucht, der nächste Termin ist im März. Besonders viel Spaß macht der Gruppe die Arbeit mit Kindern. „Die sind gleich voll dabei, sowohl beim Haptischen, dem Basteln an den Kostümen, aber auch in der tänzerischen Performance“, lobt Schuale die Motivationsfähigkeit, die Erwachsenen oft verloren gegangen sei. „Als Junge haben wir gewusst, wie das geht, auf die Welt aufzupassen. Bei mir waren das damals Tschernobyl und saurer Regen. Die Welt geht unter, hieß es, jetzt müssen wir was tun! Es ist nicht so, dass diese Erkenntnis neu wäre.“

Schuale bewegt sich gerne, übt mit den Kindern tolle Moves, aber nach ein paar Tänzen im Park geht ihm die Puste aus. „Ich baue mich immer viel zu schwer ein. Ritualisiere ich das, spiele ich als Mulla immer wieder mich selbst, wie ich mich das ganze Leben lang mit Müll überlagere und eigentlich an meinem Müll ersticke“, sinniert der Künstler.

Seine Schlussfolgerung: „Man kommt darauf, dass es so schwer ist, weil wir eigentlich kaum noch eine Möglichkeit haben. Aber wenn wir uns alle zusammentun, dann gelingt es uns vielleicht doch.“

Text: Verena Wagner
Foto: Dino Bossnini, patrick ausserdorfer